Raumklang
Warum soll man im Sitzen musizieren oder zuhören? Ein bisschen Bewegung öffnet die Gedanken und verschafft ganz neue Klangerlebnisse. Als die Moderne die Musik in ihren erstarrten Traditionen umzukrempeln begann, kamen die überkommenen Aufführungskonventionen ebenfalls auf den Prüfstand – und hier besonders das konfrontative Setting der Interpretinnen und Interpreten auf der Bühne und des Publikums im Zuschauerraum. Viele Komponistinnen und Aktionskünstler überlegten, wie sie Bewegung in diese erstarrte Konstellation bringen, wie es gelingen könnte, die Grenzen zwischen den Ausführenden und den Zuhörenden niederzureißen und in neue Formen der kreativen Auseinandersetzung zu überführen.
An diese Überlegungen knüpft das erste unerHÖRT!-Konzert im Jahr 2025 an und öffnet den Raum für die Bewegung: Zunächst sind die Musikerinnen und Musiker an der Reihe, etwa in den „Domaines“ von Pierre Boulez. Die ursprüngliche Version für Klarinette solo wurde 1968 uraufgeführt. Das Stück besteht aus sechs Heften, jedes Heft steht auf einem eigenen Notenständer und umfasst wiederum zwei Blätter: Original und Spiegel. Der Solist kann die Reihenfolge der Hefte selbst bestimmen und wandert spontan auf der Bühne von Heft zu Heft. Das bedeutet nicht nur, dass die Musik bei jeder Aufführung eine andere Gestalt annehmen kann, sondern erzeugt für das Publikum Effekte von Entfernung und Annäherung, entsprechend dem Abstand jedes einzelnen Hörers und jeder einzelnen Hörerin vom gerade bespielten Ort. Der Raumklang spielt auch eine essenzielle Rolle in den „Thirty Pieces for String Quartet“ (1983) von John Cage. Denn der Komponist verteilt die Musikerinnen und Musiker einzeln um das Auditorium herum. Ihm geht es dabei aber nicht nur um den dadurch entstehenden Surround-Sound, sondern auch um die bewusste Trennung der Ausführenden. Sie sollen sich nicht als Ensemble fühlen, sondern als für sich spielende Solistinnen und Solisten. Es gibt vor der Aufführung keine gemeinsame Probe, jeder und jede soll den entsprechenden Part allein zu Hause einstudieren und üben. Cage nennt das gewünschte Ergebnis eine „Coincidence of soloists“, ein „zufälliges Zusammentreffen der Solisten“.
Nach der Pause gerät auch das Publikum in Bewegung: In Werner Heiders „Kaleidoskop“ (2019) für vier Instrumente in vier Räumen wird das ganze Kunstpalais Stutterheim zum Klangentdeckungsort. Denn die Verteilung der Ausführenden über mehrere Räume potenziert die Erlebnismöglichkeiten um ein Vielfaches. Und keine Zuhörerin und kein Zuhörer werden dieses Werk auf die gleiche Weise hören (und sehen). Der in Erlangen lebende und aus Fürth stammende Werner Heider wird am 1. Januar 2025 95 Jahre alt – ein Komponist, dem bis heute nie die Klang- und Experimentierlust verloren gegangen ist.
Dieses Konzert wird vom Bayerischen Rundfunk – BR Franken mitgeschnitten und auf BR-Klassik gesendet.