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Ray Chen

(Amsterdam Sinfonietta / Candida Thompson)

Heinrich-Lades-Halle, Großer Saal, Erlangen

Amsterdam Sinfonietta
Ray Chen,
Violine
Candida Thompson,
Leitung

Béla Bartók
Divertimento für Streichorchester Sz. 113 (1939)

Giuseppe Tartini
Sonate g-Moll „Teufelstriller“

Pietro Locatelli
Concerto grosso op.1 Nr. 11

Astor Piazzolla
The Four Seasons of Buenos Aires (arrangiert von Leonid Desyatnikov)

„UND DER HIMMEL HÄNGT VOLLER GEIGEN“

Ray Chen, die Amsterdam Sinfonietta und Candida Thompson

Er ist ein fantastischer Geiger und ein echt cooler Typ – gutaussehend, draufgängerisch, unerschrocken. Wiederholt erregte er durch spektakuläre Aktionen großes Aufsehen. Auf YouTube sind sie für alle Welt dokumentiert: Bei einem Auftritt mit dem Sinfonieorchester Seattle Symphony riss ihm mitten im ersten Satz von Tschaikowskis Violinkonzert die E-Saite seiner Geige – der Super-GAU bei einem Konzertauftritt! Doch beherzt behielt er die Nerven. Während einer Pause im Solopart tauschte er sein Instrument kurzerhand mit dem eines Tuttigeigers, spielte weiter, während seine Violine hinten im Orchester neu besaitet und dann zu ihm zurückgereicht wurde. Alles wieder Okay! Ruhe und Gelassenheit demonstrierte er auch auf einem Flug von Amsterdam nach Lissabon: Ein technisches Problem erforderte einen außerplanmäßigen Zwischenstopp in Porto – gefühlt einer Notlandung gleich. Als sei nichts passiert, packte er seine Geige aus und spielte, durch den Mittelgang der Kabine ziehend, für die beunruhigten Passagiere ganz entspannt eine Gavotte
von Bach. Staunen, Freude, Erleichterung!

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„Artist of Reference“ beim gVe


Die Rede ist von Ray Chen, australisch-taiwanesischer Starviolinist, in der Saison 2025/26 „Artist of Reference“ beim gVe. Geboren wurde er 1989 in Taiwans Hauptstadt Taipeh, aufgewachsen ist er im australischen Brisbane. Im Alter von fünf Jahren erhielt er dort ersten Violinunterricht – nach der sogenannten Suzuki-Methode, mit der Kinder ohne Noten lesen zu müssen, ein Instrument allein durch Hören und Nachahmen gleichsam wie die Muttersprache erlernen. Dabei üben sie auch in Gruppen mit den Unterrichtenden und anderen Kindern. „Der soziale Aspekt steht im Mittelpunkt“, sagt Ray Chen zurückblickend, „man hat praktisch immer Verstärkung, und man lernt schnell, keine Angst vor dem Publikum zu haben.“ Bereits mit acht Jahren trat er als Solist in einem Konzert des Queensland Symphony Orchestra auf, als Neunjähriger spielte er bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Winterspiele in Nagano. 2004 ging Ray Chen dann in die USA und studierte am renommierten Curtis Institute of Music in Philadelphia. Daneben besuchte er Meisterkurse von Maxim Vengerov, Antje Weithaas und anderen. Seine steile internationale Karriere kam in Gang, nachdem er 2008 und 2009 drei prestigeträchtige Wettbewerbe gewonnen hatte – die Yehudi Menuhin International Competition for Young Violinists in Cardiff, die Young Artists‘ International Auditions in New York und den Concours Reine Elisabeth in Brüssel. 

Ein kommunikativer Musiker des 21. Jahrhunderts

Flankiert werden Ray Chens Auftritte in den Konzertsälen der Welt durch seine starke Onlinepräsenz. „Seit Ewigkeiten“, so der Geiger, „gehen klassische Musiker auf die Bühne, spielen, verlassen die Bühne anschließend wieder, und das war es dann. Ich glaube, dass es auch andere Dinge gibt, die heute in der Verantwortung des Künstlers liegen. Musiker sollten Botschafter ihrer Sache sein, auch abseits der Bühne. Ich definiere dieses Botschafterdasein über das Kommunizieren mit den Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter, Instagram und YouTube.“ So schuf Ray Chen 2023 mit seiner Tonic Music App eine Onlineplattform auf der sich Musikerinnen und Musiker zum Gedankenaustausch, Ratschläge einholen und gemeinsamen Üben weltweit verbinden können. Auch in privater Hinsicht ist Ray Chen, der seit 2018 mit der Geigerin Diana Yukawa verheiratet ist, überaus kommunikativ, erzählt von seiner persönlichen Quality Time mit langem Ausschlafen, Frühstück bereiten und an den Strand gehen, von seinen musikalischen Vorlieben jenseits der Klassik wie Hip-Hop und Heavy Metal oder von seinem großen Traum, irgendwann einmal Gesang zu studieren.

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Satter Streicher-Sound


Nach Erlangen kommt Ray Chen mit der exzellenten Amsterdam Sinfonietta, einem 1988 gegründetem reinen Streichorchester, spezialisiert auf Originalstücke für diese Besetzung, aber auch auf Kammermusikwerke in Bearbeitung für chorisch besetzte Streicherstimmen plus Kontrabässe. Seit 2003 wird die Amsterdam Sinfonietta von der britischen Geigerin Candida Thompson als Konzertmeisterin geleitet. „Der Geist der Kammermusik lässt sich nicht dirigieren“, erklärt die Primaria kurz und bündig. Auf dem Programm stehen bei uns zwei Bearbeitungen und zwei Originalwerke für Streicher: das spritzige Divertimento des ungarischen Nationalklassikers des 20. Jahrhunderts von Béla Bartók und das italienisch-spätbarocke, von Tänzen der Zeit durchzogene Concerto grosso in c-Moll von Locatelli. Mit Ray Chen spielt die Amsterdam Sinfonietta zunächst ein Paradestück des Geigers: Giuseppe Tartinis so ausdrucksvolle wie atemberaubend virtuose Teufelstriller-Sonate für Violine und Basso continuo in einer Bearbeitung für Solovioline und Streichorchester. Den Abschluss bildet dann gewissermaßen das moderne, lateinamerikanische Pendant zu Vivaldis barocken, italienischen „Le quattro stagioni“. Es sind „Las Cuatro Estaciones Porteñas“ (Die vier Jahreszeiten von Buenos Aires; auch Buenos Aires Sommer genannt) des Tangokönigs Astor Piazzolla in einer Bearbeitung für Solovioline und Streicher – ein funkelndes Feuerwerk aus turbulenter Großstadtmusik, Ohrwurm-verdächtigen Schlagermelodien und wehmütig-schmachtenden Kantilenen. Das Ganze im satten Streicher-Sound: An unserem Konzertabend hängt über Erlangen in der Tat der Himmel voller Geigen.

Text: Klaus Meyer