Hand in Hand: Mussorgski – Schostakowitsch – Schubert
Truls Mørk, das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und Vladimir Jurowski
Er ist ein weltweit gefragter und gefeierter Konzert- und Operndirigent – einer der großen, schillernden Pult-Stars unserer Zeit: Vladimir Jurowski, geboren 1972 in Moskau, seit 1990 zu Hause im Westen. Er war Erster Kapellmeister der Komischen Oper Berlin, über zehn Jahre Musikalischer Leiter der Glyndebourne Opernfestspiele, von 2007 bis 2021 zudem Chef des London Philharmonic Orchestra. Bereits seit 2017 ist Vladimir Jurowski Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB), seit 2021 daneben Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper München und damit zugleich Chef des Bayerischen Staatsorchesters. Die Bezeichnung Generalmusikdirektor mag er allerdings ganz und gar nicht. General klänge ihm zu militärisch, Direktor zu beamtisch. GMD möchte er daher mit Geburtshelfer-Musik-Diener übersetzen, ist doch für Vladimir Jurowski jeder musikalische Interpret eine Art Geburtshelfer – einer, der die vom Komponisten aufs Papier gebrachte Musik zum Leben bringt.
„Mit diesem Regime verbindet mich gar nichts!“
Vladimir Jurowski – ein russischer Dirigent? Seine gesamte Familie stamme aus der Ukraine, sagt er, sein Urgroßvater liege im Massengrab der Schlucht von Babyn Jar bei Kiew, wo die deutschen Invasoren 1941 innerhalb von zwei Tagen 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordeten. Die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine postulierte Zeitenwende begann für Vladimir Jurowski schon früher. „Mit diesem Regime verbindet mich gar nichts“, sagte er über das Putin-Russland in einem BR-Interview im Oktober 2021, nachdem er bereits zuvor seine zehnjährige Tätigkeit als Chef des Staatlichen Akademischen Symphonieorchester Russlands beendet hatte.
Offener Brief gegen Krieg und Diskriminierung
Zwei Tage nach dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 änderte Vladimir Jurowski kurzfristig das Programm seines Konzerts mit dem RSB, tauschte den dezidiert russophilen Slawischen Marsch von Tschaikowski mit der ukrainischen Nationalhymne aus, behielt aber die neutrale 5. Sinfonie des russischen Spätromantikers auf dem Programm. „Nicht alles über einen Kamm scheren“, lautet das Motto. Ende März lancierte er dann, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete, folgenden Aufruf: Generalmusikdirektor
Vladimir Jurowski initiiert Appell – einen offenen Brief, in dem er vehement gegen den Krieg in der Ukraine Stellung bezieht, zum Widerstand gegen Russland auffordert, sich zugleich aber auch gegen einen undifferenzierten Pauschalboykott russischer und belarussischer Musik und Kulturschaffender verwahrt.
Cellokonzert für Rostropowitsch mit Truls Mørk
Bei Vladimir Jurowskis Gastspiel mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin in Erlangen im Mai 2023 steht denn auch neben Musik der österreichischen Frühromantik ebenso russische und sowjetische Musik auf dem Programm. Den krönenden Abschluss bildet Schuberts „Große C-Dur“, seine 8. Sinfonie, die früher irrtümlich manchmal die Nummer 7, zumeist aber die Nummer 9 trug. Zur Eröffnung gibt es Mussorgskis Beschwörung eines Hexensabbats im Stil des urwüchsigen national-russischen Folklorismus. Im konzertanten Mittelfeld: das für Rostropowitsch 1966 komponierte 2. Cellokonzert von Schostakowitsch – tönendes Abbild der Tristesse und Trostlosigkeit, der Sorgen und Ängste der Breschnew-Ära. Zu Gast in Erlangen ist einer der großen, herausragenden Cellisten unserer Zeit: der Norweger Truls Mørk, ein Souverän des klassisch-romantischen Cello-Repertoires und ein profilierter Anwalt Neuer Musik.
Text: Klaus Meyer


Vladimir Jurowski
Vladimir Jurowski ist seit 2017 Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Rundfunk- Sinfonieorchesters Berlin (RSB). Der Dirigent, Pianist und Musikwissenschaftler stellt sich allen musikgeschichtlichen, stilistischen oder dirigiertechnischen Herausforderungen.
Ausgebildet zunächst an der Musikhochschule des Konservatoriums in Moskau, kam Vladimir Jurowski 1990 nach Deutschland, wo er sein Studium an den Musikhochschulen in Dresden und Berlin fortsetzte – Dirigieren bei Rolf Reuter, Korrepetition und Liedbegleitung bei Semion Skigin. 1995 debütierte er auf internationaler Ebene beim britischen Wexford Festival mit Rimski-Korsakows „Mainacht“ und im selben Jahr am Royal Opera House Covent Garden mit „Nabucco“. Anschließend war er u.a. Erster Kapellmeister der Komischen Oper Berlin (1997– 2001) und Musikdirektor der Glyndebourne Festival Opera (2001–2013). 2003 wurde Vladimir Jurowski zum Ersten Gastdirigenten des London Philharmonic Orchestra ernannt und war von 2007 bis Sommer 2021 dessen Principal Conductor. Ebenfalls bis Sommer 2021 war er Künstlerischer Leiter des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters „Jewgeni Swetlanow“ der Russischen Föderation und Principal Artist des Orchestra of the Age of Enlightenment in Großbritannien und Künstlerischer Leiter des Internationalen George- Enescu-Festivals in Bukarest. Er arbeitet regelmäßig mit dem Chamber Orchestra of Europe und dem ensemble unitedberlin. Seit der Saison 2021/2022 ist Vladimir Jurowski – parallel zu seinem Engagement beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin – Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München und bekleidet damit eine der renommiertesten Positionen im deutschen Musikleben.
Vladimir Jurowski ist rund um die Welt als Gastdirigent gefragt. Er hat Konzerte der bedeutendsten Orchester Europas und Nordamerikas geleitet, darunter die Berliner, Wiener und New Yorker Philharmoniker, das Königliche Concertgebouworchester Amsterdam, das Cleveland und das Philadelphia Orchestra, die Sinfonieorchester von Boston und Chicago, das Tonhalle-Orchester Zürich, die Sächsische Staatskapelle Dresden und das Gewandhausorchester Leipzig. Er gastiert zudem regelmäßig bei den BBC Proms, dem Musikfest Berlin sowie bei den Musikfestivals in Dresden, Luzern, Schleswig-Holstein und Grafenegg sowie beim Rostropowitsch-Festival. Mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin wird er 2021/2022 bei mehreren Konzerten in Bukarest, Spanien, Ungarn und Österreich zu erleben sein.
Die erste gemeinsame CD von Vladimir Jurowski und dem RSB aus dem Jahre 2015 wurde sogleich zu einem Meilenstein. Alfred Schnittkes Sinfonie Nr. 3 folgten 2017 eine Strauss-Mahler-Aufnahme und Violinkonzerte von Britten und Hindemith mit Arabella Steinbacher und dem RSB. 2020 erschien eine von der Kritik hochgelobte Einspielung von Gustav Mahlers „Das Lied von der Erde“, im August 2021 erschein die für den International Classic Music Award 2022 nominierte Einspielung von Richard Strauss‘ „Eine Alpensinfonie“.
Vladimir Jurowski wurde vielfach für seine Leistungen ausgezeichnet, darunter mit zahlreichen internationalen Schallplattenpreisen. 2018 kürte ihn die Jury der Royal Philharmonic Society Music Awards zum Dirigenten des Jahres. 2016 erhielt er aus den Händen von Prince Charles die Ehrendoktorwürde des Royal College of Music in London. Im Sommer 2020 wurde Jurowski in Anerkennung seiner Tätigkeit als Künstlerischer Leiter des George-Enescu- Festivals vom Rumänischen Präsidenten mit dem Kulturverdienstorden ausgezeichnet.
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) besitzt eine international anerkannte Position in der ersten Reihe der deutschen Rundfunkorchester und der Berliner Spitzenorchester. Seit Herbst 2017 ist Vladimir Jurowski Chefdirigent und Künstlerischer Leiter. An seiner Seite agiert seit 2019 Karina Canellakis als Erste Gastdirigentin.
Das RSB geht zurück auf die erste musikalische Funkstunde des deutschen Rundfunks im Oktober 1923. Die früheren Chefdirigenten, u.a. Sergiu Celibidache, Eugen Jochum, Hermann Abendroth, Rolf Kleinert, Heinz Rögner, Rafael Frühbeck de Burgos und Marek Janowski, formten einen Klangkörper, der in besonderer Weise die Wechselfälle der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert durchlebt hat.
Mittlerweile ist das RSB zu einer ersten Adresse für hervorragende junge Dirigent*innen der internationalen Musikszene geworden: Andris Nelsons, Yannick Nézet-Séguin, Vasily Petrenko, Jakub Hrůša, Alain Altinoglu, Omer Meir Wellber, Lahav Shani oder Nicholas Carter. Viele von ihnen haben ihr jeweiliges Berlin-Debüt mit dem RSB absolviert und dirigieren es inzwischen regelmäßig.
Seit 1923 traten bedeutende Komponisten des 20. und inzwischen auch des 21. Jahrhunderts ans Pult des RSB oder führten als Solisten eigene Werke auf: Paul Hindemith, Arthur Honegger, Darius Milhaud, Sergei Prokofjew, Richard Strauss, Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Wladimir Vogel, Kurt Weill und Alexander Zemlinsky ebenso wie in jüngerer Zeit Krzysztof Penderecki, Peter Maxwell Davies, Friedrich Goldmann, Berthold Goldschmidt, Siegfried Matthus, Matthias Pintscher, Peter Ruzicka, Heinz Holliger, Jörg Widmann, Thomas Adès und Brett Dean. Brett Dean und Marko Nikodijević waren zuletzt als Composer-in-Residence beim RSB präsent, in 2021/2022 bereichert Jelena Firssowa mit ihrem Werk die Saison.
Dank der engen Verbindung mit den beiden Sendern von Deutschlandradio sowie mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) werden alle Sinfoniekonzerte des RSB im Rundfunk übertragen. Die Zusammenarbeit mit Deutschlandradio trägt unvermindert reiche Früchte auf CD. Vier Einspielungen unter der Leitung von Vladimir Jurowski haben seit 2015 ein neues Kapitel der Aufnahmetätigkeit aufgeschlagen. Seit mehr als 50 Jahren gastiert das RSB regelmäßig in Japan und Korea sowie bei deutschen und europäischen Festivals und in Musikzentren weltweit.

