Gespräch mit Herbert Blomstedt in Bamberg, am 12. Juni 2018

Autorin: Sabine Kreimendahl

Ein Glas Milch, ein Teller mit frischem Obst, ein Vollkornbrötchen und eine Flasche Wasser stehen auf dem Arbeitstisch der Künstlergarderobe von Herbert Blomstedt. Diese schlichten Ingredenzien könnten stellvertretend stehen für Bescheidenheit, ja, Askese, für Konzentration und Präsenz im Wesentlichen, für Beweglichkeit und Freundlichkeit, die der weltberühmte schwedische Dirigent auch mit fast 91 Jahren unvermindert ausstrahlt. Blomstedt ist einer, der Werte hat und vermittelt und dennoch ein Suchender bleibt. Beim Dirigieren geht es ihm stets um Klarheit, um Konzentration, darum „der Absicht des Komponisten möglichst nahe zu kommen“.

Von Müdigkeit ist auch nach zwei großen Proben von Gustav Mahlers „Neunter“ nichts zu spüren. Blomstedt nimmt sich bereitwillig Zeit für ein intensives Gespräch mit dem gVe, ist beeindruckt, dass eine ganze „Bus-Armada“ aus Erlangen eigens für dieses Konzert nach Bamberg anreist, zeigt sich in allen Belangen bestens informiert.

gVe: Herr Blomstedt, Sie wohnen in unmittelbarer Nähe zur „Symphonie an der Regnitz“ und sind seit vielen Jahrzehnten immer wieder auch in Bamberg. Kennen Sie Bamberg? Mögen Sie Bamberg?

HB: Ja, ich kenne Bamberg und habe hier regelmäßig gearbeitet, aber eine derartig intensive kulturelle Stadt lernt man nie so ganz kennen. Auch, wenn Bamberg eine relativ kleine Stadt ist, so ist es doch sehr reichhaltig, in der Historie, in der Kunst.

gVe: Gefällt sie Ihnen?

HB: Ja, das ist eine Stadt nach meinem Herzen: Konservativ, altmodisch, aber gut erhaltene, alte Gebäude. Ich bin auch ein Bücherfreund (Anmerkung: Blomstedt besitzt eine Sammlung von ca.

30 000 Büchern und Partituren) und finde hier viel. Ich habe in meiner Bibliothek Faksimile-Kopien vom „Bamberger Psalter“ und die „Bamberger Apokalypse“, eine fantastische Handschrift von ca. 1200, alles großartig faksimiliert, auch die Löcher und Risse. Denn die alten Handschriften, die bleiben ja auch nicht ewig.

Ich bewundere das hier: Es ist vieles erhalten und es lebt weiter. Es gibt hier und in Nürnberg enorm viel Kultur und das sagt mir sehr zu. Und das es auch warm gehalten wird, wie etwa durch die Bamberger Symphoniker, das ist großartig. Es ist lebendig hier, nicht nur museal, es lebt noch weiter. Das Publikum versteht das, weiß es zu schätzen. Es ist in Bamberg ja ein Rekord an Publikum, jeder zehnte Einwohner hat ein Abonnement. Wenn das in Berlin so wäre, hätten die 300 000 Abonennten (lacht). Und sehr schön: Der Erzbischof sitzt gleich in der ersten Reihe. Das ist auch stellvertretender Ausdruck von Kulturerbe.

Foto von Herbert Blomstedt
Herbert Blomstedt

gVe: Wie ist Ihr Eindruck des Orchesters, das Sie ja schon seit vielen Jahren kennen, dessen Ehrendirigent Sie sind?Wie hat sich das Orchester möglicherweise gewandelt?

HB: Ich kenne das Orchester schon sehr lange. Ich hörte es schon als Student 1950/51 in Stockholm, damals noch unter Joseph Keilberth mit Schuberts großer C-Dur-Symphonie. Als Zugabe haben sie den „Till Eulenspiegel“ gespielt, ein ziemlich umfangreiches Werk. Ich hab´ das sehr bewundert, diese Vitalität und Eleganz des Orchesters, diesen ganzen Organismus. Um 1981 habe ich das Orchester zum erstenmal dirigiert noch im Dominikanerbau. Das war ja nicht ideal, hatte aber auch eine eigene Stimmung. Das Orchester hat wunderbar gespielt. Die haben einen besonderen Charakter, das haben alle sehr guten Orchester. Dann gibt es noch eine große Schicht, wo fast alle gleich klingen, aber die ganz großen Orchester haben ein eigenes Profil. Die Bamberger sind besonders frisch in der Musizierweise. Vielleicht bilde ich mir das ein, aber ich glaube, das hängt zusammen mit ihrem böhmischen Ursprung. Die sind sehr spontan in Böhmen und musizieren mit einem natürlichen Flair. Natürlich stammt niemand mehr aus im Orchester aus Tschechien, aber das wird vererbt (lacht). Dvorak, Slawische Tänze, das können die gut.

gVe: Gustav Mahler müsste dann aber auch gut klingen?

HB: Ja, das können die sehr gut. Sie haben das auch unter Jonathan Nott gepflegt. Sie kennen dadurch die Noten und den Geist des Werks sehr gut und sie identifizieren sich mit dieser Musik. Das ist nicht selbstverständlich. Es gibt andere sehr gute Orchester, die nicht so nahe zu Mahler stehen, aber hier ist das eine sehr nahe Verbindung.

gVe: Das heißt, Sie sind zufrieden mit der Probenarbeit?

HB: Ja. Wir arbeiten miteinander, damit wir vorankommen, voneinander lernen.

Foto von Herbert Blomstedt und Sabine Kreimendahl
Herbert Blomstedt und Sabine Kreimendahl

gVe: Was bedeutet Mahlers „Neunte“ für Sie?

Sie wird ja – gemessen an den Exzessen vorangegangener Mahler-Symphonien mit Hammer oder Kuhglocken, sie verlangt kein übermäßig besetztes Orchester oder Singstimmen – als „klassische Dämpfung“ bezeichnet. Woran liegt das Besondere von Mahlers Neunter für Sie?

HB: Ich finde, das ist ein Gesundheitskriterium, dass er nun auskommt ohne diesen Gigantismus. Das kann verführerisch sein. Denn das Wesentliche waren zuvor diese Neuigkeiten, die verarbeitet wurden. Man kann den Gigantismus nicht „ad absurdum“ führen, immer noch größer, noch mehr Leute auf der Bühne. Irgendwann platzt das Ganze. Die 8. Symphonie ist zwar besetzungsmäßig seine größte Symphonie, aber sie ist nicht Mahlers größte Symphonie, garnicht! Die Neunte ist zwar nicht im Umfang, trotz anderhalb Stunden Länge, aber inhaltsmäßig die intensivste, emotional die größte Symphonie. Das hängt eben auch mit dieser Begrenzung eines normal großen Symphonieorchesters zusammen. Abgesehen von den erweiterten Bläsern ist das wie bei einer großen Beethoven-Symphonie und klingt doch ganz anders. Mahler war eben ein großer Orchesterkenner. Seine Symphonien sind garnicht zu denken, wenn er nicht auch ein großer Beethoven-Dirigent gewesen wäre. Mahler war die Verbindung von Kapellmeister, einem orchestralen „Insider“ und einem großen visionären Komponisten. Das ist sehr persönlich, expressiv. Wenn ein kleinerer Komponist so komponiert hätte, würde ich das als ekelhaft bezeichnen, denn das ist so pathetisch, dass es fast zum Kotzen ist. Das kann man nicht aushalten. Aber, wenn ein genialer Komponist das macht, dann wird das veredelt. Mahler war auch ein hochintelligenter Mensch, ein leidender Mensch. Er kannte alle Leiden, die ein Mensch haben kann. Er war zwar nicht taub wie Beethoven, aber er hat Familienmitglieder verloren, er hat seine liebsten Menschen verloren, seine Geschwister, seine zwei Kinder, seine Frau hat ihn verlassen – er hat viel Tragik in seinem Leben durchgemacht. Dennoch hat er seine seelische Integrität behalten.

Wenn man Beethoven mit Mahler vergleicht, muss doch eines klar sein: Beethoven hat nie sich selbst ausgedrückt. Beethoven war taub, hat aber nie eine tragische Symphonie über sein Leiden geschrieben, nie …

gVe: Die „Fünfte“, Egmont?

HB: Ja, aber hören Sie da wirklich „Welch´ tragische Person bin ich“ ? Egmont ist doch voll von Power und enormer Willenskraft. Beethoven beklagt sich nicht. Bei Mahler ist doch jeder Takt ein „Hören Sie mal wie ich leide! Hören Sie mal wie schlimm das ist!“. Aber er leidet für die ganze Menschheit, er kann das sublimieren, so dass es alle angeht. Bei einem kleineren Geist wäre das nervig, man würde sagen: „Lass ihn weinen“, nicht so bei Mahler!

gVe: War Mahler ein religiöser Mensch, sind seine Werke religiös?

HB: Mahler war kein Christ, aber er war ein großer Mensch. Er war überhaupt nicht eitel, aber er war überzeugt, dass er etwas Besonderes ist. Mahler symbolisiert das Beste, was wir selbst möchten (lacht verschmitzt). Die zweite Symphonie, die „Auferstehungssymphonie“ ist überhaupt kein religiöses Werk, das ist antireligiöse Musik, es heißt: Mit den Flügeln, die ich mir gemacht habe, schwebe ich davon. Von christlicher Demut ist überhaupt nichts da. Mahler hat eine andere Art von Größe. Weil er nicht nur ein Sucher ist, sondern ein Vollkommener, kann man sich mit ihm identifizieren.