200 Jahre „Stille Nacht!“

Anmerkungen zu einem immateriellen Unesco-Kulturerbe und dessen Gebrauch

Ein Evergreen wird 200 Jahre alt. Nein, nicht zur Sommerszeit, sondern nur im Winter, wenn es schneit. Oder auch nicht schneit. Das Weihnachtslied „Stille Nacht“ ist nicht irgendein Evergreen, es ist vermutlich das bekannteste Lied weltweit.

In etwa 300 Sprachen ist es übersetzt worden. Religion oder Konfession spielen dabei keine Rolle. Alle Welt singt dieser Tage „Stille Nacht“.

Es gibt das Lied „Stille Nacht“ sogar in Dialekten, allein fünf friesische Textversionen listet Wikipedia auf! Die Anzahl der musikalischen Bearbeitungen ist nicht zu benennen: Wie bei Volksliedern üblich richtet sich die Besetzung und Ausführung nach den praktischen Gegebenheiten. Das war auch vor 200 Jahren so.

In der Klassik haben Max Reger, Max Bruch, Alfred Schnittke und Krzysztof Penderecki das Lied in ihre Kompositionen eingearbeitet. In der Popmusik gibt es von Simon & Garfunkel eine Fassung. Schlagerstars wie Helene Fischer touren mit „Stille Nacht“ durch die Lande. Der Kult geht weiter mit Sonderausstellungen und Veranstaltungen im „Stille-Nacht-Museum“ in Oberndorf bei Salzburg. Dort ist das Lied vor 200 Jahren entstanden und zum ersten Mal aufgeführt worden. Mit Reiserouten und Urlaubspackages „für eine romantische Auszeit auf den Spuren des weltberühmten Weihnachtsliedes“, mit Weihnachtsmärkten auf dem „Stille-Nacht-Platz“, mit weihnachtlichen Rezeptideen aus dem Land der „Stillen Nacht“ gleicht die Vermarktung einem gar nicht stillen Rummelplatz mit teils bizarren Auswüchsen.

Die Sache hat sich vor zweihundert Jahren stiller, unauffälliger zugetragen.

Der Erlanger Theologe und Kirchenmusiker Konrad Klek hat die Geschichte von „Stille Nacht“ anlässlich des Jubiläums in einigen wissenschaftlichen Zeitschriften gut dokumentiert und erläutert.

Es gibt schon bei der Entstehung von „Stille Nacht“ einige Legenden, um den „Status des Wunderbaren“ zu belegen. Konrad Klek berichtet:

„Das Beste sind die Mäuse im Dienste des Allerhöchsten, welche bei der Orgel den Blasbalg zerfressen haben sollen, sodass die Orgel unspielbar war und Pfarrer mit Organist aus purer Not ein Solo mit Gitarrenbegleitung aufsetzen mussten.“
Entgegen einiger Ursprungslegenden, die ein „spirituelles Gesamtkunstwerk“ belegen wollen, liegen Dichtung und Vertonung zwei Jahre auseinander.

Der junge Priester Joseph Mohr (1792-1848) hat den Text in Mariapfarr (im Süden des Erzstifts Salzburg) Weihnachten1816 gedichtet und möglicherweise mit einer eigenen Melodie am Heiligen Abend dort gesungen. Nach seiner Versetzung nach Oberndorf bittet er seinen Musikerfreund, den Lehrer-Organist Franz Xaver Gruber (1787-1863) einen zweistimmigen Liedsatz daraus zu machen. Das Lied wird nach der Christmette der Gemeinde als extra „Zugabe“ vor der Weihnachtskrippe von Pfarrer und Organist mit Gitarrenbegleitung gesungen. Das ist bei der Gemeinde so gut angekommen, dass Abschriften gemacht wurden. So breitet sich das Lied „Stille Nacht“ bald im Salzburger Land und in Tirol aus. Seinen Siegeszug um die ganze Welt tritt das Lied jedoch erst ein paar Jahre später von Leipzig zur Neujahrsmesse 1831/32 durch die Geschwister Strasser aus dem Zillertal an. Jodeln und alpenländische Volkslieder sind beim Bürgertum dort sehr beliebt. Bei einem öffentlichen Konzert im Saal eines renommierten Leipziger Hotels erregt das Strasser-Geschwister-Quartett mehr Aufmerksamkeit als mit ihrem Kerngeschäft, dem Verkauf von Handschuhen und Unterwäsche. Kundenfreundlich und gefühlvoll muss das Ganze klingen. Aus diesem Grund haben die Strassers auch in der Melodie „gefühlsmäßig aufgerüstet“ und haben bei der Verszeile „Schlaf in himmlischer Ruh“ mit einer Akzentuierung auf die Dominant-Septime betont. Zudem werden nur drei der ursprünglich sechs Strophen gesungen. Der Leipziger Musikverleger Riese ahnt den Marktwert der Lieder und lässt diese mitschreiben. Er ediert „Vier Ächte Tyroler-Lieder“ mit „Stille Nacht“, die sich bestens verkaufen.

Die Strasser-Fassung mit den drei Strophen, die in der Reihenfolge mit Strophe 1 – 6 – 2 gesungen werden, hat sich bis heute durchgesetzt.

Klek räumt mit dem „Lieblings-Hassobjekt“ im Kontext der Lutherrenaissance auf. Hier wurde „der holde Knabe im lockigen Haar“ als kitschig etikettiert. Falsch, befindet Klek: „Die Locken sind nämlich von der AT-Gestalt Samson her ein Symbol göttlicher Macht und Kraft, … namentlich bei Weihnachtsbildern im Salzburger Land… mit einem goldenen Jesu-Lockenkopf schon aus romanischer Zeit.“

Klek schlägt vor, zum 200-Jahr-Jubiläum 2018 das ganze Lied zu singen, da dieses sowohl in der dramaturgischen Steigerung als auch aus theologischer Sicht durchaus Sinn mache. Zudem erfährt das Lied mit seinem ursprünglichen Text brisante Aktualität. Klek sieht das Lied – entgegen seiner „Affirmation zur bürgerlichen Familien-Idylle“ als „Welt-Friedenslied“. Das zeigt die ursprünglich dritte Strophe „Stille Nacht!Heil´ge Nacht!/ Die der Welt Heil gebracht;/ Aus des Himmels goldenen Höh´n,/ Uns der Gnaden Fülle läßt seh´n:/ Jesum in Menschengestalt!“

Am Heiligen Abend 1914 hat sich in Flandern das Friedenswunder ereignet, als es einen spontanen Waffenstillstand zwischen Deutschen und Engländern gab, ausgelöst durch das Singen von Weihnachtsliedern. Die deutschen Soldaten singen natürlich auch „Stille Nacht“, stellen dann Weihnachtsbäumchen auf die Ränder der Gräben an der Flandern-Front. “We are not shooting today“, rufen sie den Engländern zu und treffen sich auf beiden Seiten im „Niemandsland“. Als „Christmas truce“ geht das in England in die bis heute „lebendige Erinnerungskultur“ ein. Klek meint dazu, „dass das nur als Torso bekannte Lied seine vierte Strophe sozusagen inkognito voll zur Geltung brachte“. Darin heißt es: „Stille Nacht! Heil´ge Nacht!/Wo sich heut alle Macht/Väterlicher Liebe ergoss/Und als Bruder huldvoll umschloss/Jesus die Völker der Welt!/“.

Noch deutlicher wird dies in der fünften Strophe: „Stille Nacht! Heil´ge Nacht!/ Lange schon uns bedacht,/Als der Herr vom Grimme befreit,/In der Väter urgrauer Zeit,/Aller Welt Schonung verhieß!“

Klek bezeichnet „Aller Welt“ als Pointe: „Gottes Gnadenfülle kennt keine ethischen Prioritäten, keine Bewährungsproben für Völker in der Geschichte und kalkuliert auch nicht mit Vorleistungen beim einzelnen Menschen.“

In Österreich ist das Lied in der neuen Ausgabe des „Gotteslob“ im Regionalteil des katholischen Gesangbuches wieder aufgenommen.

Vielleicht werden in Erlangen anlässlich des 200-jährigen „Stille-Nacht“-Jubiläums in manchen Gemeinden Liedzettel mit der sechs-strophigen Fassung verteilt. Der textliche Stropheninhalt ist für jeden Prediger eine weihnachtliche, interessante Interpretationsquelle.

Und die anderen singen weiterhin zur weihnachtlich inneren Erbauung „Stille Nacht“ in der gewohnten Fassung. So tönt es laut von fern und nah…

Quellenangabe:

Teile dieses Artikels sind folgenden Quellen entnommen:

1) Konrad Klek – Stille Nacht! In der Zeitschrift „Cardo“, Heft 16, 2018, S. 5-11. www.studienjahr.de/cardo.html
2) Konrad Klek – 200 Jahre „Stille Nacht! Im „Forum Kirchenmusik 6.2018“, S. 4 – 10.

Verfasserin: Santa Silenzia