„Massacre du Printemps“ – die „Atombombe der Neuen Musik“
Text: Klaus Meyer
Mittlerweile sind sie eher aus der Mode gekommen – die großen, handfesten Uraufführungsskandale in Oper und Konzert. Was auch immer an Nonsens und Geschmacklosigkeit den kranken Gehirnen der Verrückten unter den Opernregisseuren entspringen mag, was auch immer an Scheußlichkeiten der bizarren Phantasie so mancher zeitgenössischer Komponisten entfleucht – keine Inszenierung und kein Bühnenbild kann so großer Mist sein und keine Komposition kann noch so sehr nach „Arsch und Friedrich“ klingen, als dass sich das Publikum oder die Presse noch wirklich aufregen und empören würde. Sicherlich: Die Buhs gibt es noch immer, auch noch das Pfeifen und Zischen, aber dass es so richtig kracht im Gebälk der Opernhäuser und Konzerthallen – das gibt es nicht mehr. Im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte und in unserem Zeitalter der Überflutung der Reize sowieso hat sich das Publikum an jeden Quatsch gewöhnt.
„Die Huren sollen schweigen!“
Als sich die wahre Wut und der bissige Zorn noch so richtig austobte, traf dies ausgerechnet große Meisterwerke, die all diese Ausschreitungen wahrlich nicht verdienten: zum Beispiel Uraufführungen der Neuen Wiener Schule um Arnold Schönberg im Jahrzehnt vor dem 1. Weltkrieg und vor allem die Premiere von Igor Strawinskys Ballett „Le Sacre du Printemps“. Am 29. Mai 1913 fand sie im seinerzeit neu eröffneten Pariser Théâtre des Champs-Elysées statt. Und damals gab es nicht nur Buhs, Pfeifen und Zischen, sondern so richtig Zunder – mit Beschimpfungen und Beleidigungen, schallenden Ohrfeigen und zertrümmerten Mobiliar, dass sich die Balken bogen. Bald war nicht mehr vom „Sacre du Printemps“, sondern vom „Massacre du Printemps“ die Rede, und dazu passt, dass Arthur Honegger das Stück später als „die Atombombe der Neuen Musik“ bezeichnete. Es war ein explosiver Ausbruch des Zuschauer-Unwillens, der sich bei dieser Uraufführung entlud, mit handgreiflichen Auseinandersetzungen der Theaterbesucher untereinander. Schon kurz nach dem Beginn der Vorstellung wurde es im Publikum unruhig. Die Lage eskalierte, als der Komponist Florent Schmitt laut vernehmbar in Richtung der feinen Damen der Pariser Hautevolee ausrief: „Die Huren aus dem XVI. Arrondissement sollen schweigen!“ Bald darauf wurde der ebenfalls anwesende Maurice Ravel von einer empörten Dame der Pariser Adelsgesellschaft geohrfeigt, weil er sie aufgefordert hatte, ihre Missfallensäußerungen tunlichst einzustellen.
„Mes enfants, allons souper!“
Dabei war die Produktion erstklassig. Zur epochalen Musik Strawinskys tanzten Sergej Diaghilews „Ballets russes“, die Choreographie stammte von Star-Tänzer Vaclav Nijinskij, der auch eine der Hauptrollen tanzte. Und am Pult stand der Dirigent Pierre Monteux, der gewissermaßen den ruhenden Pol in all dem Chaos bildete, den Fels in der tosenden Brandung. „Das Bild von Monteux’ Rücken“, erzählte Strawinsky später, „ist mir lebendiger in Erinnerung geblieben als das Bühnenbild. Er stand dort scheinbar ungerührt und ohne Nerven wie ein Krokodil. Es ist für mich immer noch fast unglaublich, dass er das Orchester wirklich bis zum Ende durchbrachte.“ Als sich das Theater schließlich geleert hatte und wieder Ruhe im Zuschauerraum eingekehrt war, knisterte die bis zum Zerreißen angespannte Stimmung hinter der Bühne. Diaghilew schnappte krebsrot vor Zorn nach Luft, Nijinskij starrte bleich vor sich hin, und Strawinsky saß völlig niedergeschlagen da. Pierre Monteux aber trat völlig gelassen zum Team und sagte nur: „Mes enfants, allons souper!“ – „Also, meine Kinder, gehen wir Abendessen!“